Reifetest Barolo: befriedigend, bestenfalls
Die Klassenstreber meines Abschlussjahrgangs 1990 waren mir schon immer suspekt: Von Vielen ihrer Benotungen wegen bewundert, wurden sie charakterlich mindestens genauso oft ?bersch?tzt. Ein Klassenstrebertreffen der besonderen Art gab es jetzt nach knapp 20 Jahren der Abschlussklasse der elit?ren Barolo-Erziehungsanstalt. Damals prognostizierte man ihnen beste Karrierechancen und eine Ausdauer beim Erklimmen von Rekordh?hen, dass man sie mittlerweile l?ngst auf den H?hen des Olymps vermuten w?rde. Ja, nach 20 Jahren m?ssten sie den Normal-Sterblichen endlich wie entr?ckte G?tter erscheinen, die, von ferne angebetet, dem gemeinen Volk die Gunst einer Probe ihres K?nnens und ihrer unendlichen G?te nur h?chst selten gew?hrten. Denn das Volk durfte sich ja immer wieder an den hymnischen Lobpreisungen willf?hriger Hofberichterstatter erg?tzen, die das Abbild des ?berirdischen Glanzes regelm??ig punkteinflation?r in die heimischen Probierstuben brachten.
Und so w?re es wohl weiter gegangen, wenn da nicht ein mutiger Prometheus die G?ttlichen auf die Erde – diesen erbarmungslosen Boden der nackten Tatsachen – heruntergeholt h?tte. Namentlich an die trunken m?andrierenden Ufer der Glems, um sie dort im Kreise Kundiger des Menschengeschlechts nach den Sph?ren ihrer 20-j?hrigen Wanderschaft zu befragen.
Nun, wie waren die Antworten dieser f?nf vornehm vor sich hin alternden? Wie hoch sind sie auf ihrem strammen Gipfelsturm in die Welt der ewigen Legenden gelangt?
Nr. 1: der Gescheiterte
Wann es genau passierte, kann man heute nicht mehr sagen, doch der sensorische Befund l?sst keinen Zweifel aufkommen. Die Verwesung hat bereits eingesetzt. Kein brachialer Kork-Tod, mehr ein sanftes und langsames Ausatmen bis die Lunge allm?hlich ihre Arbeit ganz einstellen wird. Oxidiert, nach Portwein schmeckend, l?sst er aber noch ein paar seiner fr?heren hoffnungsfrohen Vorzeigenoten erahnen: Haselnuss, Karamell und Liebst?ckel. Doch er wird immer d?nner und schw?cher, den Olymp kann er von dort unten nicht einmal schemenhaft erkennen:
Bric del Fiasc, Paolo Scavino 1990, ohne Wertung.
Nr. 2 – der Dahinrobbende
Ein paar Meter weiter nach oben muss man schon gehen, um dem n?chsten Giganten zu begegnen. Auch wenn sein Sch?pfer im realen Leben eigentlich jemand ist, der sich dem interessierten J?nger mit mehrsprachigen Schildern zu erwehren wei?… Am Anfang macht dieser Herr noch einen wahrhaft tugendhaften Eindruck, bis auch ihm die Puste ausgeht: zuerst eine sch?ne Aromenf?lle von Maggi, Leder und Haselnussh?utchen, verflacht er zusehends, und wird nach weiterer Befragung zunehmend d?nnh?utig und beinahe sauer. Wir wollen ihn (Sperss, Gaja 1990) nicht l?nger st?ren, bewerten ihn mit 86 Punkten und sind gespannt wer uns auf dem Weg nach oben als n?chstes begegnet.
Nr. 3 – der Verirrte
Bei jedem Aufstieg gibt es Phasen, wo es erst einmal auf gleicher H?he weiter geht, ohne dass man seinem Ziel sichtbar n?her k?me. Doch wenn das scheinbar gar kein Ende nimmt, k?nnten einem da nicht Zweifel kommen, ob der Weg nicht l?ngst wieder ins n?chste Tal hinab f?hrt? Der Bricco Bussia, Aldo Conterno 1990 ist so ein Zweifelnder. Hat er sich schon verirrt oder findet er doch noch zum Ziel? Gegen letzteres spricht jedenfalls sein kurzer Atem – trotz (oder gerade wegen) seines kurzen Abgangs scheint er wom?glich l?ngst wieder auf einem langen Weg ins Tal. Schade eigentlich, denn er hat durchaus Tiefe, schmeckt nach Nougat und erinnert an satte Bergwiesenkr?uter, Haselnussstr?ucher und, nun ja, an Jod, das n?tige R?stzeug w?re also durchaus vorhanden: 89 Punkte.
Nr. 4 – der K?mpfer
Kein ?berflieger zwar, aber wohl dennoch einer, der den falschen Abzweig schon erfolgreich hinter sich gelassen hat, ist der n?chste Kandidat: Pajana, Domenico Clerico 1990. Kein Charmeur, aber jemand, der seine verschiedenen Charaktereigenschaften zu einem harmonischeren Ganzen zusammenf?gen kann. Mit etwas Sauerkirsch und intensiv duftend verf?gt er ?ber viel Adstringenz: Biss ist eine Tugend auf dem Weg nach oben, 90-91 Punkte.
Nr. 5 – der Zielstrebige
So einer will gleich beim Namen genannt werden: Vigneto Arbonina, Elio Altare 1990. Er wei?, was er kann und ist auf dem richtigen Weg, wenn auch l?ngst nicht in Gipfeln?he. Mit seinen Ankl?ngen an Graphit, Menthol, intensiver Schokolade, Rosmarin und Apfel hat er es immerhin auf eine H?he von 93 Punkten geschafft.